Was waren die zentralen Botschaften des Tribunals “NSU-Komplex-Auflösen”? Auf dem CLINCH-Festival sind Aktive, Betroffene und Rassismuserfahrene zusammengekommen und haben ihr Wissen mit den Anwesenden geteilt. Nach der Einführung von Ayşe Güleç, Mitbegründerin der “Initiative 6.April” und Mitorganisatorin des NSU-Tribunals, erfolgte eine vielstimmige Lesung aus O-Tönen von Betroffenen über ihrer Erfahrungen mit kriminalisierenden Ermittlungsbehörden und Medien. Anschließend eröffnete Ibrahim Arslan, Überlebender des rassistischen Anschlages von Mölln 1992 das Gesprächforum mit den Zeitzeugen und Betroffenen rassistischer Gewalt: Candan Özer-Yılmaz, Cana Bilir-Meier und Cihad Hammy.
Für einen radikalen Perspektivwechsel in der Causa NSU sorgte im Mai 2017 das Tribunal “NSU-Komplex auflösen”, das im Schauspiel Köln stattfand. Getragen von einem bundesweiten Zusammenschluss an Initiativen und Einzelpersonen wurde 5 Tage lang eine öffentliche Plattform geschaffen, auf der Rassismus und rechtsextreme Gewalt dezidiert aus der Perspektive der Betroffenen, Hinterbliebenen und Rassismuserfahrenen Menschen zur Sprache gebracht wurde. Ihre Stimmen sind während der Ermittlungen zur NSU-Mord- und Anschlagserie jahrelang zum Schweigen gebracht worden. Eine Routine, die nicht nur im Kontext von rechter Gewalt um sich greift, sondern täglich alljenen entgegenschlägt, die als “anders”, “fremd”, “nicht dazugehörig” markiert und deklassiert werden. Das Tribunal entwickelte eine Form, eben dieses Wissen rassismuserfahrener Menschen in ihrer gesamten Unterschiedlichkeit generationenübergreifend hörbar zu machen und dabei die Kontinuitäten und Konjunkturen von Rassismus aufzuzeigen.
Seither hat sich das Tribunal zu einem wandernden Forum entwickelt und bringt lokale Geschichten und Erfahrungen von Rassismus zusammen mit Überlebenden aus den Progromen und Anschlägen der 90er Jahre, mit Überlebenden der Shoa, den Erfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland, den Initiativen, die sich für die Aufklärung rassistischer Gewalt einsetzen, mit Hinterbliebenen und Betroffenen der NSU-Mord-und Anschlagserie, mit Geflüchteten und allen, die rassistische Gewalt in ihrer physischen und strukturellen Form kennen.
Auf dem CLINCH-Festival in Hannover war es dann auch Ibrahim Arslan, der zum Gesprächsforum einlud und mit den Gästen sprach. Ibrahim Arslan, der den Brandanschlag auf das Haus seiner Familie in Mölln 1992 knapp überlebte und dabei drei Familienangehörige verlor, ist mittlerweile zum Botschafter des Tribunals geworden und empowered Menschen ihre Geschichten zu teilen. Nicht nur weil “die Hauptzeug_innen des Geschehenen sind”, wie Ibrahim Arslan immer wieder betont. Sondern auch weil dadurch eine Solidarität entstehen kann, um den rassistische Routinen und Übergriffen ein Ende zu setzen. Diesmal sind Candan Özer-Yılmaz, Cana Bilir-Meier und Cihad Hammy die Gäste von Ibrahim Arslan.
Ein Jahr ist vergangen, seitdem Atilla Özer, der Mann von Candan Özer-Yılmaz, gestorben ist. Sie musste zusehen, wie ihr Mann nach dem Nagelbombenanschag in der Kölner Keupstraße 2004 immer depressiver wurde. Bis zum offiziellen Bekanntwerden der Neonazis, vergingen sieben Jahre, in denen die Opfer als Tatverdächtige galten. Mit mehreren Nägeln im Kopf wurde Atilla, wie viele andere Opfer des Nagelbombenanschlages, nicht verarztet, sondern ersteinmal einer stundenlangen polizeilichen Verhörung unterzogen. Ein Tag nach dem Anschlag hatte Innenminister Otto Schily verlautbart, dass nichts auf einen “terroristischen Hintergrund” hindeute. So suchte die Polizei in den folgenden Jahren akribisch und auschließlich in der Keupstraße nach den Tätern. Wie so viele andere Überlebende des Nagelbombenanschlages musste Attila Özer ohne jede professionelle Unterstützung mit den psychischen und physischen Schäden alleine zu Recht kommen, und sich den Verdächtigungen und Diffamierungen der Ermittler aussetzen. “Der Anschlag nach dem Anschlag”, nannten das die Betroffenen der Keupstraße. Vergangenes Jahr verstarb Attila Özer schließlich an den Spätfolgen seiner Depression, die er nach dem Anschlag bekommen hatte. Seine Frau Candan Özer-Yılmaz erzählt seine Geschichte, damit nicht vergessen wird, dass Rassismus auch über Umwege tödlich ist. Candan Özer-Yılmaz fordert umfassende, professionelle und staatlich finanzierte Hilfe für alles Menschen, die rassistischer oder rechtsextremer Gewalt ausgesetzt sind.
Tödlich waren rassistische Erfahrungen auch für Semra Ertan. 1982 verbrannte sich die Tochter von Gastarbeiter_innen aus der Türkei auf offener Straße mitten in Hamburg. Sie hinterließ Tagebücher, Gedichte und Notizen, die ihre leidvollen Erfahrungen dokumentieren; über ihr Leben als Gastarbeiterkind in Deutschland, als Arbeiterin, bestimmt für die “schmutzigen” Jobs, ohne Perspektive auf Weiterentwicklung, Anerkennung, Aufenthalt, immer mit der Bedrohung ausgesetzt, ausgewiesen zu werden. Jetzt ist es Cana Bilir-Meier, die Nichte von Semra Ertan, die die Geschichte ihrer Tante ins öffentliche Bewusstsein bringt. Sie liest Gedichte von Semra Ertan vor, und sie hat eine audiovisuelle Installation mit Tonaufnahmen und Radiomitschnitten entwickelt.
Cihad Hammy hat aus politischen Gründen Syrien verlassen. Er erzählt davon, wie der Rechtsanspruchs auf Asyl in (europäischen) Staaten mit staatlicher Unterdrückung, Isolation und Abschreckung einhergehen und wie das Konzept des Nationalstaates Geflüchtete zu rechtlosen Subjekten macht: zb. durch die Lagersysteme, die in Deutschland genauso wie der Türkei oder Italien aus dem Zentrum ausgelagert werden, wodurch Geflüchtete keinen Zugang zu sozialen und kulturellen Ressourcen haben. Die Nichtanerkennung von Bildungsabschlüssen führe direkt zu einer Deklassierung aller Geflüchteten, die gezielt in unterste Einkommensklassen gedrängt werden – ganz gleich, welche Qualifikationen sie mitbringen.Es sei nicht länger zu verheimlichen, dass der Wohlstand in bestimmten Staaten nur auf Kosten von Armut, Absatzmärkten und Kriegen in anderen Teilen der Welt möglich ist. Statt von einer Flüchtlingskrise zu sprechen, fordert Cihad Hammy, von einer Krise der Wirtschaftsform zu sprechen.
Zuhören als politischer Akt – das war eine der zentralen Botschaften des NSU-Tribunals. Welche Bedeutung diese Forderung für einen gesellschaftlichen Transformationsprozess hat, erläuterte Ayşe Güleç, Mitbegründerin der “Initiative 6.April” und Mitorganisatorin des NSU-Tribunals. Wir sehen das das Youtube-Video von der Kasseler Demonstration aus dem Jahr 2006. Es ist mittlerweile ein Chiffre geworden für das kollektive Überhören von migrantisierten und rassismuserfahrenen Menschen. Nach dem Mord an Halit Yozgat organisierten einige Familienangehörige der Ermordeten unter dem Titel “Kein 10.Opfer” einen Trauerzug in Kassel, an dem etwa 4000 Menschen teilnahmen. Neun Opfer hatte es zu dem Zeitpunkt bereits gegeben: Enver Şimşk, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Das war 2006. Die Öffentlichkeit nahm kaum Kenntnis von der Mobilisierung der betroffenen Familienangehörigen und ihren Forderungen, den Morden ein Ende zu setzen. Sie wurden übersehen, überhört. Nach dem Bekanntwerden der Täterschaft, nach Verurteilung der Angeklagten und nach 12 parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, besteht immer noch die Frage, was getan werden muss, damit das Wissen von Betroffenen nicht immer wieder auf’s Neue zum Schweigen gebracht, marginalisiert, ausgeblendet oder schlichtweg nicht ernst genommen wird.
Kommt zum bevorstehenden Tribunal in Mannheim – vom 22.November bis 25.November 2018! Mehr Informationen dazu findet ihr hier.
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